Die Macht der Masse

Konstanzer Forscher lassen Heuschrecken im Kreis marschieren und Fische im virtuellen Schwarm schwimmen. So lernen sie auch etwas über den Menschen.

16./17. März 2024, Süddeutsche Zeitung

Eben noch war alles gut. Eine Heuschrecke war eine Heuschrecke, mehr nicht. Nach einer langen Dürreperiode hatte es zuletzt viel geregnet, die Landschaft Kenias blühte. Dort saß Schistocerca gregaria irgendwo in einem Gebüsch, von Weitem nicht zu erkennen. Eine sieben bis neun Zentimeter kleine Heuschrecke mit einem grünen Panzer, sechs Beinen und zwei kurzen Fühlern. Ein völlig unschuldiges Insekt, das am liebsten solitär lebt.

Nur wenige Stunden später ist nichts mehr gut. Als hätte der Teufel persönlich die Apokalypse gestartet, verwandelt die Wüstenheuschrecke sich in ein Monster: Ihre Augen nun rot, ihr Panzer gelb mit schwarzen Streifen, schließt sie sich plötzlich mit anderen Artgenossen zusammen. Erst sind es Tausende. Die Insekten beginnen zu marschieren, alle in dieselbe Richtung. Dann Hunderttausende, ein hüpfender Albtraum. Im Erwachsenenstadium schließlich, wenn ihre Flügel ausgebildet sind, fliegen die Tiere. Die Heuschrecken fluten die Erde, Gräser, Bäume. Millionen Individuen in einem Schwarm, Wolken aus Insekten, die über Felder herfallen und alles kahlfressen, was da ist.

Wie organisiert sich ein Schwarm? Folgt er demokratischen Regeln?

„Denn sie bedeckten den Boden des ganzen Landes, und das Land wurde finster“, heißt es in der Bibel im Zweiten Buch Mose, „und sie fraßen alles, was im Lande wuchs, und alle Früchte auf den Bäumen, die der Hagel übriggelassen hatte, und ließen nichts Grünes übrig an den Bäumen und auf dem Felde in ganz Ägyptenland.“

Die große Frage lautet: Warum switchen die Tiere vom unschuldigen Einzelgänger zum strammen Soldaten, der bestens organisiert als Teil seines Heeres alles platt macht, was sich ihm in den Weg stellt? Und die noch größere: Wie lassen sich solche Schwärme kontrollieren – oder gar verhindern?

Genau das fragt sich Iain Couzin im beschaulichen Konstanz. Dort sitzt er als einer von drei Direktoren des Max-Planck-Instituts (MPI) für Verhaltensbiologie in seinem Büro, große Fenster lassen den Blick hinaus auf den Bodensee schweifen. „Kaffee?“, fragt er erst einmal, nachdem er sich nur mit „Iain“ vorgestellt hat, und steht selbst auf, um für den Gast einen zu holen. Couzin hat in diesem Jahr seinen 50. Geburtstag gefeiert, aber wenn der Biologe in T-Shirt, Shorts und Turnschuhen von der Wüstenheuschrecke erzählt, hat er den Charme eines neugierigen Jungen. „Ist es nicht bemerkenswert?“, sagt er dann mit tiefer Stimme und lächelt, während er versucht, seine Arbeit zu erklären.

Couzin ist eine Koryphäe auf dem Gebiet der Schwarmforschung. Er hat nicht nur das Kollektivverhalten von Schistocerca gregaria untersucht,sondern beispielsweise auch das von Ameisen, Fischen, Staren, Affen, dem Menschen. Im Freiland, im Labor, mit Drohnen und in der virtuellen Realität. Aktuell beschäftigt er sich mit der Frage, wie Zellen sich im Kollektiv verhalten. Auf seiner Liste stehen außerdem Wölfe in Indien und Haie vor den Malediven.

Wie organisiert sich ein Schwarm? Welcher Systematik folgen Entscheidungen innerhalb einer Gruppe? Funktioniert ein Schwarm nach den Regeln der Demokratie? Das sind Fragen, die Couzin beschäftigen. Er hat im Laufe seiner Karriere erstaunliches herausgefunden, dabei immer die größte Frage von allen im Hinterkopf: Was verrät das Schwarmverhalten von Tieren über den Menschen?

Tiere tanzen im Schwarm Ballett, führen Kriege – und können den Menschen das Fürchten lehren

Denn auch der ist nichts anderes als ein hochgradig sozialisiertes Tier, das immer schon in Netzwerken gelebt und sich entwickelt hat. Egal ob in der Kleinfamilie, im Verbund des Großen Hauses, als Teil eines festen Freundeskreises, im Team mit Kollegen. Oder in loseren Schwärmen wie Demonstrationszügen, Swifties oder einer Gruppe Wartender am Bahngleis. „Niemand ist eine Insel“, sagt Couzin.

Man kann in der Biologie vieles bestaunen. Die Komplexität von Proteinen zum Beispiel, die Wandlungsfähigkeit von Viren, das Wunder der menschlichen Geburt. Schwärme aber üben eine ganz eigene Faszination aus. Die Ästhetik von Staren etwa, wenn sie am Himmel ihre wellenförmigen Formationen vollführen, nur um blitzartig die Richtung zu wechseln, alle Individuen im Einklang. So als steuere sie jemand von außen oder als folgten sie einer penibel eingeübten Choreographie.

Tiere im Schwarm tanzen aber nicht nur Ballett am Himmel oder im Meer. Sie jagen im Zusammenschluss. Führen Kriege gegeneinander. Knüpfen Bünde mit anderen Arten. Und können den Menschen das Fürchten lehren. So wie eben die Wüstenheuschrecke: Ein Schwarm, der eine Landfläche von einem Quadratkilometer bedeckt, kann sich aus bis 80 Millionen Individuen zusammensetzen. An einem einzigen Tag verspeisen die Insekten eines solchen Schwarms so viel Nahrung wie 35.000 Menschen. Nicht nur in Afrika, sondern auch im Nahen und Mittleren Osten sowie in Südwesten Asiens kommt es deswegen immer wieder zu Hungersnöten. Der Lebensunterhalt von jedem zehnten Menschen auf der Erde wird durch Heuschreckenplagen bedroht. Und der Klimawandel verstärkt das Problem.

2020 wütete in Ostafrika ein Schwarm, von dem rund 25 Millionen Menschen betroffen waren. In Kenia ächzten Dreiviertel der Landesfläche unter dem Kahlfraß, es war die schlimmste Plage seit 70 Jahren. Die Heuschrecken schafften es schließlich sogar auf die Arabische Halbinsel und bis nach Pakistan.

Um mehr über das Wie und Warum herauszufinden, forscht Couzin nicht allein. Das Exzellenzcluster Kollektives Verhalten und die Mitarbeiterinnen des MPI funktionieren wie eine Allegorie auf Couzins eigenen Forschungsgegenstand: Hier wird und interdisziplinär und gemeinschaftlich gearbeitet – Couzin selbst nutzt die Intelligenz des Schwarms. Auf den Fluren und einzelnen Stockwerken des Instituts begegnen einem deswegen Neurobiologinnen, Computerwissenschaftler, Physikerinnen, Psychologen und Ingenieurinnen aus der ganzen Welt. Im Keller des Gebäudes wird deutlich, warum.

Couzin führt einen über einen langen Flur. Rechts und links gehen Zimmer ab, in denen seine Kollegen und Kolleginnen über ihren Experimenten brüten. In Raum 609 etwa sitzt Iacopo Hachen, der mit echten Fischen in virtueller Realität arbeitet. Der Neurowissenschaftler untersucht die Entscheidungsprozesse, durch die Individuen Informationen untereinander austauschen. Dazu gaukelt er Zebrafischen in verschiedenen Becken mittels virtueller Realität vor, sie schwämmen im Schwarm. „Fisch-Matrix“, so nennen sie das Versuchssetting im Institut. In Wirklichkeit aber schwimmt jeder der Fische allein durch sein Becken, während er von vier Kameras in Echtzeit dabei gefilmt werden. Doch über die virtuelle Realität lassen die Tiere sich „verbinden“: Die Fische beginnen, mit ihren Hologram-Genossinnen zu interagieren. Und miteinander. So kann Hachen verschiedene Fragestellungen durchtesten. Wie verhält sich mein echter Fisch, wenn ich den virtuellen Kollegen so programmiere, dass er plötzlich in eine andere Richtung schwimmt? Folgt mein echter Fisch? Oder bleibt er bei seinem Schwarm?

Es gibt keinen einzelnen Anführer in einem Schwarm, keinen Big Boss

Nebenan, in Raum 616, kämpfen die Physikerin Maya Dagher und der Ingenieur Li-Ming Chao gerade mit ihrer Software. Die beiden wollen zwei Roboterfische an jeweils einem Stab synchron durch ein Wasserbecken schwimmen lassen. Die Roboter bewegen dabei ihre Hinterflossen exakt so durch die künstliche Strömung, wie es auch der Modellfisch in freier Wildbahn tun würde. Auch die Größe des Roboters und seine Proportionen entsprechen jenen des echten Tier. Mit Hilfe eines Lasers und einer High-Speed-Kamera untersuchen Dagher und Chao, wie Nanopartikel sich im Wasserbecken bewegen: Der Laser beleuchtet die Partikel, die Kamera zeichnet alles auf. Später analysieren Dagher und Chao das Strömungsmuster rund um die zwei Roboterfische. Das Forscher-Duo will herausfinden, wie sich das synchrone Schwimmen auf den Energieverbrauch der Roboter auswirkt. Die beiden versuchen, die Frage zu beantworten, warum Fische sich überhaupt synchron bewegen. Geschieht dies nur zufällig – oder entscheiden die Tiere sich dafür, weil sie einen Vorteil daraus ziehen, etwa, weil sie beim Schwimmen im Schwarm weniger Energie verbrauchen als allein?

Es sind Grundlagen, nach denen die Wissenschaftler und Forscherinnen im Keller des Instituts suchen. Allerdings hoffen sie, daraus für die Praxis lernen zu können. Wer zum Beispiel weiß, wie Informationen innerhalb eines Schwarms wandern und ab welcher Größe die Weitergabe nicht mehr richtig funktioniert, könnte daraus Sicherheitskonzepte für Massenveranstaltungen ableiten. Oder neue Ansätze für den Naturschutz erarbeiten – zum Beispiel gegen die Schwärme der Wüstenheuschrecke. Denn wenn die erst einmal so groß sind, dass sie zu Millionen marschieren, ist es zu spät. Dann helfen nur noch Insektizide, wenn überhaupt.

Iain Couzin ist mittlerweile an der Tür zu Raum 625 angekommen. Er drückt die Klinke hinunter und weist einem den Weg in den „Imaging Hangar“. Es öffnet sich ein in Hightech-Labor, so groß wie eine kleine Turnhalle. Erst seit dem vergangenen Jahr ist das neue Riesenlabor in Betrieb. Die Wände sind mit weißer Plane behangen, von der Decke baumeln Kameras, kühle Luft schlägt einem entgegen. Hier simulieren Couzin und seine Kolleginnen Freiland unter kontrollierten Bedingungen. Das ist eigentlich Hybris. Denn alle Verhaltensbiologen stehen vor demselben Problem: Untersuchen sie Schwärme oder Rudel in ihrem natürlichen Habitat, müssen sie dies unter unkontrollierten Bedingungen tun. Ein Albtraum für jeden Wissenschaftler. Verhaltensbiologinnen erzählen sich deswegen gern einen Witz über die Arbeit in der Natur: Du wartest und wartest – und wenn schließlich etwas passiert, fällt dir auf, dass du die Kappe deiner Kamera nicht rechtzeitig abgenommen hast.

Im Imaging Hangar gibt es solche Probleme nicht. Couzin und seine Kolleginnen können die Bedingungen je nach Tierart und Hypothese exakt festlegen. So wie bei dem Heuschrecken-Experiment im vergangenen Jahr. Stunden hatten Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des Exzellenzclusters und des MPI damit verbracht, einzelne Wüstenheuschrecken auf dem Rücken mit reflektierenden Marken zu versehen. 4.000 von 10.000 Tiere bekamen einen Aufkleber.  Sie setzten die Insekten in eine kreisrunde Arena im Imaging Hangar. Stellten die Temperatur der Halle auf 28 Grad ein. Simulierten das Licht gemäß den Bedingungen im kenianischen Freiland. Und dann warteten sie.

Jeden Tag wurden die Tiere gefüttert, eine Woche lang filmten 30 Kameras mit maximal 300 Bildern pro Sekunde jede einzelne Bewegung jedes einzelnen Insekts. Die Daten wurden in einen Computer eingespeist. Der erstellte ein Bewegungsprofil. Jeder Punkt, den Couzin auf dem Monitor sehen konnte, entsprach einer Heuschrecke. Jeder Strich einer einzelnen Bewegung. Und irgendwann im Laufe dieser Woche gelang das, was zuvor noch niemandem in einem Labor mit so vielen Tieren gelungen war: Die Heuschrecken schlossen sich zu einem Schwarm zusammen, bewegten sich von links nach rechts und wieder zurück – sie begannen, zu marschieren.

So konnten Couzin und seine Kolleginne empirisch belegen: Es gibt keinen einzelnen Führer innerhalb des Schwarms. Sie funktionieren vollkommen selbstorganisiert. Ein Muster, das sich auch bei Ameisen, Vögeln oder Staren beobachten lässt. Jedes Tier beeinflusst mit dem eigenen Verhalten das der ganzen Gruppe and orientiert sich gleichzeitig an seinen Nachbarn. Außerdem konnten Couzin und seine Kollegen bei den Wüstenheuschrecken in ihrem Labor eine Art sozialen Zusammenhang feststellen. Denn manche Tiere, die sich von der Gruppe entfernten, kehrten wieder zu ihr zurück.

Die Ergebnisse sind neue Teile im Erkenntnis-Puzzle, das Couzin versucht, Schritt für Schritt zusammenzusetzen. In früheren Experimenten hat er herausgefunden, wieso die Heuschrecken sich überhaupt zusammenschließen. Wenn die Populationsgröße einen kritischen Wert übersteigt und die Nahrungsquellen gleichzeitig zu knapp werden, rutschen die Tiere in einen Nährstoffmangel – und werden sich plötzlich selbst zum Feind. Die ehemals friedlichen Einzelgänger wandeln sich in Kannibalen. „Der beste Weg für eine Wüstenheuschrecke, ihren Mangel an Nährstoffen auszugleichen, ist eine andere Heuschrecke“, sagt Couzin.

Früher dachten Wissenschaftler, ein besonders kooperatives Verhalten der Tiere sei der Grund dafür, warum sie in riesigen Verbünden irgendwann zu wandern beginnen. Aber Couzin und seine Kolleginnen konnte zeigen, dass genau das Gegenteil der Fall ist: Die Angst, vom eigenen Nachbar aufgefressen zu werden, bringt die Tiere dazu, gemeinschaftlich in dieselbe Richtung zu marschieren. In ihrem Bewegungsmuster folgen die Insekten dabei den Gesetzen der Teilchenphysik. Couzin benutzt gern das Bild einer Autobahn als Erklärung: „Wenn man vermeiden will, mit den anderen zu kollidieren, fährt man am besten gemeinschaftlich in dieselbe Richtung.“

In den Neunzigern wusste die Wissenschaft noch erstaunlich wenig über Schwärme

Auch, warum die Tiere sich vom unschuldigen Loner in Monsterschwärme verwandeln, wissen Couzin und seine Kollegen mittlerweile. Hunger allein reicht nicht aus. Auch nicht der Geruch oder die Sicht anderer Heuschrecken. Berührung gibt den Ausschlag. Das konnten britische Wissenschaftler vor einigen Jahren feststellen. Wenn die einzelnen Individuen zu dicht aufeinandersitzen, übereinander krabbeln und sich zu oft an den Hinterbeinen berühren, steigt der Serotonin-Gehalt im Gehirn der Tiere. Die Transformation setzt sich in Gang, der Schwarm entsteht. In einem Experiment durchtrennte Couzin die Abdomennerven der Wüstenheuschrecke, so dass die Tiere die Bisse jener, die hinter ihnen marschierten, nicht mehr fühlen konnten. Sofort verloren die Insekten ihre Fähigkeit zur Schwarmbildung.

Insekten faszinierten Couzin schon als Kind. Seine zweite Leidenschaft galt der Kunst. Wenn er auf den Boden starrte, um das Gewusel eines Ameisenhaufens zu begreifen, war er fasziniert von der visuellen Kraft des Schwarms. Als Junge dachte er sich: „Jemand muss sich das näher angeschaut haben und wissen, was hier los ist.“ Doch als Couzin in den Neunziger Jahren selbst mit seinen Forschungen an Ameisen begann, stellte er überrascht fest, dass das Kollektivverhalten von Tieren in Schwärmen erstaunlich wenig erforscht worden war. Wie auch, mit den damals limitierten technischen Möglichkeiten.

Heute ist die Ausgangslage im Vergleich zu jenen Tagen atemberaubend gut: Leistungsfähige Computer, virtuelle Realität, Drohnen und Künstliche Intelligenz machen Dinge möglich, von denen Couzin früher nicht zu träumen gewagt hätte. Viele Fragen rund um das Rätsel von Schwärmen können Wissenschaftler trotzdem noch immer nicht beantworten. „Ich habe das Gefühl, wir kratzen grade erst an der Oberfläche“, sagt Couzin. Aber auf manche der grundlegenden Fragen gibt es Antworten. Etwa auf die, warum das Phänomen der Schwarmbildung in der Natur eigentlich existiert. „Allein zu sein, ist das Schlimmste“, sagt Couzin, „es verbraucht viel mehr Energie – und ist es ist auch die gefährlichste Lebensweise.“ Ein Leben im Schwarm spart energetische Kosten. Es schützt vor Feinden. Es ermöglicht, die Umgebung sehr viel besser wahrzunehmen, als ein einzelnes Individuum mit den Grenzen seines Gehirns es jemals könnte. Und es ermöglicht eine Art von Intelligenz, die nur aus dem Zusammenspiel entsteht.

Wissenschaftler Couzin glaubt nicht an das geniale Genie

Das gilt auch für den Menschen. Wenn wir eine Entscheidung treffen, tun wir dies nie allein. „Wir denken vielleicht, wir hätten völlig selbstständig eine Entscheidung getroffen“, sagt Couzin, „aber wir sind sehr stark von sozialen Informationen beeinflusst.“ Couzin hat sogar herausgefunden, dass innerhalb eines Schwarms selbst Individuen, die nur über wenige Informationen verfügen, essenziell für die Entscheidung der ganzen Gruppe sind. Egal ob bei Fischen oder bei Menschen.

Die westliche Philosophie, die so sehr an den freien Willen glaubt, an die Leistung des einzelnen und an individuelle Intelligenz – Couzin hat seine Probleme mit diesem Ansatz. Weil er weiß: Menschen benutzen soziale Informationen in jedem Bereich ihres Lebens, wenn sie eine Entscheidung treffen müssen. „Sogar, wenn wir darüber nachdenken, ob wir eine bestimmte Person auf ein Date treffen wollen oder nicht“, sagt Couzin, „werden wir in dieser Entscheidung unbewusst von unserer Annahme darüber beeinflusst, was eine dritte Person über das vermeintliche Date denken könnte.“

Dann erzählt er noch von einem Experiment am Massachusetts Institute of Technology (MIT), das die kollektive Intelligenz in Teams untersucht hat. Die Wissenschaftler wollten wissen: Sind manche Teams schlauer als andere? Wenn man Männer und Frauen unterschiedlicher Intelligenz zu verschiedenen Teams zusammensetzt, welche Faktoren entscheiden dann darüber, wie gut die jeweiligen Teams bestimmte Aufgaben lösen können? Der durchschnittliche IQ eines jeden Einzelnen? Der höchste IQ der schlauesten Gruppenmitglieder?

Erstaunlicherweise weder noch. Denn jene Teams mit einem höheren durchschnittlichen IQ schnitten bei den Teamaufgaben nicht viel besser ab als jene mit einem niedrigeren IQ. Die erfolgreichsten Teams zeichneten sich hingegen durch drei Merkmale aus: Ihre Mitglieder diskutierten egalitär, niemand dominierte die Gruppe. Ihre Mitglieder waren besser darin, Emotionen anhand von Gesichtsausdrücken zu lesen, also soziale Informationen zu interpretieren. Ihre Mitglieder waren vorwiegend Frauen. „Für kollektive Intelligenz braucht man Vielfalt“, erläutert Couzin die Ergebnisse der Studie.

Und es schießt einem der Satz wieder in den Kopf, den er zu Beginn der Begegnung gesagt hat: „Niemand ist eine Insel.“ Couzin spürt diesen Zusammenhang jeden Tag in seinem Institut. Weil die Expertise jedes Einzelnen zu breiteren Erkenntnissen der gesamten Gruppe führt. Und weil keines der Experimente ohne das Wissen der anderen denkbar wäre. Couzin glaubt nicht an die Idee des genialen Individuums. Die Wissenschaft lehrt ihn anderes. 

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