Grit setzt alles auf eine Karte

Mit Anfang 40 verlässt sie ihren Partner, den Job, die Stadt, um auf Sylt zu kochen.

#46, Mai 2019, REPORTAGEN


Ihr altes Leben war gar nicht schlecht, sie hätte auch so weitermachen können. In einer Beziehung mit ihrem Freund bleiben, der sie seit sechs Jahren liebte und den sie liebte, in einem Job, der sie zwar langweilte, aber okay war. Bürojob, mit netten Kollegen, vielen Freunden. In ihrer Heimatstadt Braunschweig, wo sie jede Strasse kannte, weil sie nie woanders gewesen war. Das Leben als Fluss, der ruhig und beständig in seinem Bett floss. Keine Strudel, keine Überraschungen, dafür sicher und berechenbar. Das ist doch schon viel, das reicht doch für ein Leben, es muss doch nicht mehr sein.

Oder?

Doch, befand Grit irgendwann. Genauer gesagt zu einem Zeitpunkt, an dem die meisten anderen träge werden in ihrem Status, sich eingerichtet haben. Zu steif, um im Fluss des Lebens noch einmal die Richtung zu wechseln. Zu ängstlich, um sich in Stromschnellen zu werfen, die unverhofft auftauchen. Zu müde, zu bequem, zu festgefahren.

Sie geht, weil okay eben doch nicht gut genug ist

Grit sieht jünger aus als 46 Jahre, eher Typ freche Göre als braves Mädchen. Gross, verschmitztes Lächeln, wasserstoffblondes Haar, darin heute ein rosa Band, mehrere Tattoos über den Körper verteilt, «aber die bedeuten nix», sagt sie. Nur ein einziges ist wichtig: der kleine Anker auf dem rechten Ringfinger, den ihre beste Freundin Katja ihr damals schenkte, als Grit ihr altes Leben verliess.

Erst ihren Partner, dann ihren Job. Und dann Braunschweig. Um Köchin zu werden, auf Sylt. Weil okay eben doch nicht genug war.

«Da muss doch noch was kommen! Das soll’s jetzt gewesen sein?!», denkt Grit an ihrem vierzigsten Geburtstag. «So soll das hier weitergehen die nächsten 25 Jahre, bis zur Rente?» Sie trennt sich von ihrem Partner; vielleicht war die Tatsache, dass die beiden nie zusammengezogen waren, ja ein Zeichen, dass es eben nicht für immer sein sollte. Vielleicht braucht sie den Bruch, um weiterzugehen. Zeitgleich erinnert Grit sich an diesen alten Traum. Der eigentlich immer da war, irgendwo, irgendwie. Wenn sie mit ihrem Partner stundenlang über Bauernmärkte lief und euphorisch Gemüse in den Händen wog; wenn sie freitagabends für alle Freunde ein neues Gericht kochte, das sie in der Woche zuvor irgendwo auf einem Foto gesehen hatte; wenn sie schon wieder Kochsendungen schaute, Kitchen Impossible und Chef’s Table, oder wenn sie nach ihrem Vollzeit-Bürojob an den Wochenenden noch in einem kleinen Café um die Ecke jobbte, Brot buk, Marmelade kochte, Frühstücksteller anrichtete. Nicht des Geldes wegen, sondern für den Spass.

Essen bedeutet Gemeinschaft und Kommunikation

Wieso ist Kochen für Grit so wichtig? Sie überlegt, ihr Blick wird weich. Da war der Milchreis ihrer Oma früher, süss, warm, immer angerührt in einem grossen Topf mit einer Vanilleschote. Die Oma wickelte den Topf in eine Decke und stellte ihn zum Ziehen unter das Federbett. Bis der Vanilleduft das ganze Zimmer durchzog. Und da war der Esstisch zu Hause, bei den Eltern. Das gemeinsame Frühstück war Pflicht. Die Mutter richtete das Essen immer liebevoll an – Wurst in Plastikfolie kam ihr nicht auf den Tisch. «Essen ist Gemeinschaft», sagt Grit, «und Kommunikation.»

Wenn man sich ihr Leben anschaut, von heute aus betrachtet, kann man schon einen roten Faden erkennen. In ziemlichen Schlangenlinien zwar, ähnlich einer garen Spaghetti, die sich schlängelt, wenn man sie an die Wand wirft. Aber eigentlich drehte sich immer alles ums Kochen. Schon als sie klein war und so oft bei der Mutter auf der Anrichte in der Küche hockte, um in die Töpfe zu gucken, die Beine baumelnd.

Grit macht das heute, als erwachsene Frau, immer noch: auf der Anrichte hocken und mit den Beinen baumeln. Mittlerweile in ihrer eigenen Küche im Hotel «Das Kubatzki» in St. Peter-Ording. Kann sie ja, als Küchenchefin.

Hätte sie vielleicht auch schon früher gekonnt. Wenn sie sich eher getraut hätte, ihrem Traum nachzugehen. Wenn ihr eine ältere Frau, selbst Köchin, die Sache als junges Ding nicht ausgeredet hätte. «Als Koch hast du nie Zeit! Da musst du immer an Feiertagen arbeiten! Da wirst du nie viel Geld verdienen!» Grit glaubte der Frau. Und machte eine Ausbildung zur Schilder- und Lichtreklameherstellerin, um danach noch ein Studium anzufangen, Bildungsmittel und Jugendmedien, das sie dann aber abgebrochen hat. Schliesslich landete sie in einer Werbeagentur und dann bei einem örtlichen Jugendmedium, Online-Redaktion. So weit, so okay. Bloss glücklich war sie nicht.

Als sie sich die Frage nach dem Glück stellt, misstraut sie sich selbst zunächst

«Und dann hab ich eben mit vierzig überlegt, wann ich am zufriedensten bin», sagt sie heute. Die Antwort: hinterm Herd. Aber nicht als Mutter und Hausfrau. «Kochen macht mich glücklich», sagt sie und wirkt dabei sehr sicher. Keine Zweifel mehr.

Doch am Anfang, als sie sich die Frage nach dem Glück stellt, traut sie der eigenen Analyse nicht. Also baut sie sich eine Brücke oder vielmehr: Sie überlistet sich selbst. Durch ein Praktikum im «Sansibar» – das ihr die eigene fixe Idee vom Kochen schon austreiben wird, so hofft sie, als sie loslegt. Das «Sansibar» ist ein berühmtes Restaurant auf Sylt, das Grit seit Kindertagen kennt, weil die Eltern mit ihr und der Schwester dreissig Jahre lang auf die Nordseeinsel in den Urlaub gefahren sind. Einmal pro Urlaub isst die Familie in dem schicken Restaurant, das eigentlich viel zu teuer ist. Ein Highlight, die Mutter spart dafür das ganze Jahr, was sie in ihrem Nebenjob verdient. «Und dann hat sie immer gesagt», erinnert sich Grit: «Kinder, guckt nicht rechts in der Karte, wo die Preise stehen! Nur links, bei den Gerichten! Ihr könnt alles bestellen, was ihr wollt!»

Aber das Praktikum stoppt Grits Traum nicht wie erhofft – es befeuert ihn nur noch. Nach zwei Wochen kann sie nicht mehr zurück in ihre Komfortzone in Braunschweig. Der Personalchef bietet ihr einen Ausbildungsplatz an. Plötzlich ist alles klar.

Angst? Nein. Was soll schon passieren, denkt sich Grit. Ihre Familie, ihre Freunde, selbst ihr Ex-Freund: Alle stehen hinter ihr. Dann scheitere ich eben, denkt sie, dann lachen ein paar Leute über mich, wenn es schiefgeht – na und? Dann geh ich zurück und mache wieder irgendeinen Bürojob. Aber ich habe es wenigstens versucht.

Ihre Entscheidung steht: Sie wird Köchin. Aller Angst zum Trotz

Sie vermietet ihr Haus in Braunschweig an Freunde, packt den Passat ihrer Eltern voll, fährt los. Und dann kommt die Angst doch noch. Als hätte sie heimtückisch in der Ecke gesessen und nur auf einen schwachen Moment gewartet. Grit will gerade eine Fahrkarte für den Autozug nach Sylt kaufen, ihr altes Leben zusammengestaucht in Kisten hinten drin im Passat, als ihr klar wird, was sie gerade tut.

«Hin und zurück?», fragt die Frau hinterm Ticketschalter.

«Nee, nur hin!», sagt Grit. Und dann heult sie los.

«Was ist denn? Kann ich Ihnen irgendwie helfen?», fragt die Fahrkartenverkäuferin bestürzt. «Nee, mir is› nicht mehr zu helfen», sagt Grit.

Ihre Entscheidung steht. Sie wird Köchin. Aller Angst zum Trotz.

Als sie ihre Ausbildung im «Sansibar» beginnt, als einzige Frau unter 30 Männern, ist sie 41 Jahre alt. Ihre Kollegen: alle im Schnitt um die 25. Junge Kerle mit zu viel Testosteron im Blut. Bis zu 500 Essen kocht das «Sansibar» pro Tag, 12- bis 14-Stunden-Schichten: normal. Genauso wie der Druck, der Stress, der Lärm. Und die Kollegen, die Grit als Frau in der Küche nicht ernst nehmen. Nur Dietmar, der Küchenchef und Grits Ausbilder, nimmt sie ernst. Er wird zu ihrem grössten Vorbild. Weil Dietmar Gerichte so kochen kann, dass sie umami sind. Der perfekte, runde Geschmack. Ein ganzes Gericht in einem einzigen Löffel, das ist für Grit umami. Sie muss lernen, nach Rezept zu kochen, was sie vorher nie gemacht hat. «Ich dachte, ach Quatsch, ich brauch doch kein Rezept!», erinnert sie sich, «das wird schon geil werden!» Bis Dietmar ihr sagt: «Jetzt hör endlich auf mit deinem Hausfrauenkochen hier!»

Von sieben Azubis gehen nur zwei ins Ziel. Die anderen fünf brechen die Ausbildung ab

Grit muss lernen, sich zu fügen. Die Regeln und Rezepte zu beherrschen, die Küche im Blick zu behalten. Was macht der Kollege neben mir? Wieso steht er nicht an seinem Posten? Warum piept der Ofen? Reicht die Zeit, die ich eingeplant habe? Sie lernt, dass Kochen viel mehr ist, als nur Zutaten zuzubereiten. Sondern, dass auch Organisationstalent, Planung, Übersicht und Wirtschaftlichkeit einen guten Koch ausmachen.

Grit fängt die Ausbildung mit sieben anderen Azubis an – nur zwei gehen ins Ziel. Auch sie schafft es nicht: Drei Monate vor Schluss schmeisst sie hin. Sie ist fertig mit den Nerven. Und hat höllische Schmerzen, Lungenentzündung. Vier Wochen Krankenhaus. «Ich war so müde», sagt sie, «im letzten halben Jahr der Ausbildung habe ich jeden Tag ans Aufhören gedacht und jeden Abend nach der Arbeit geheult.»

Als sie aus dem Krankenhaus kommt, geht sie nicht mehr zurück nach Sylt. Sie heuert für ein Jahr in dem Restaurant eines Freundes in Bremen an, später arbeitet sie als Chefin in einer grossen Kantine, betreibt «nebenbei» mit einer Freundin einen Catering-Service. Dann kommt die Stelle im «Kubatzki», wo Grit zunächst als Frühstücksköchin anfängt. Nach und nach übernimmt sie immer mehr Aufgaben, sie arbeitet sich hoch – und wird Küchenchefin.

Jetzt bindet Grit sich eine Schürze um, die Uhr zeigt halb zwei am Nachmittag. Noch fünfeinhalb Stunden, bis die ersten Hotelgäste eintrudeln, Feierabend machen wird Grit irgendwann gegen halb elf am Abend. Das Vier-Gänge-Menü für heute steht schon fest, Grit hat es «Panza llena – corazón contento» getauft, «ein voller Bauch – ein glückliches Herz». Heute auf der Karte als Teil des mexikanischen Menüs: Süsskartoffelsuppe, ein Tomaten-Ananas- Chutney, scharfer Kürbis mit Chili und Limette, Guacamole, grünes Couscous, Tortilla-Wraps mit buntem Salat in einem Korianderdressing, serviert mit Steak-Streifen oder Polentawürfeln. Als Nachtisch selbstgemachtes Avocado-Eis auf einem Ananas- Carpaccio. Kollege Daniel, 28, schnippelt schon Gemüse. Die beiden arbeiten Hand in Hand, auf Augenhöhe, viel geredet wird nicht. Jeder weiss, dass er sich auf den anderen verlassen muss. Sie sind nur zu zweit, es ist eine kleine Küche, vielleicht 16 bis 18 Quadratmeter, höchstens.

Sie weiß, was viele denken: Eine Frau braucht doch einen Mann, um glücklich zu sein!

Grit hat nie darüber nachgedacht, ob sie als Frau einen unüblichen Weg gegangen ist. Ihr Weg ist kein Statement. Zumindest, wenn es nach ihr geht. Er ist es aber doch. Von 300 Köchen, die im vergangenen Jahr mit einem Michelin-Stern ausgezeichnet wurden: nur 9 Frauen. Grit arbeitet 40 bis 60 Stunden die Woche, sie hat wenig Geld, keinen Mann und keine Kinder, all das: keine Charakteristika, die einer Frau sozialen Status verleihen. Grit weiss, was viele denken, ohne es zu sagen: Eine Frau braucht doch einen Mann! Sie braucht doch eigene Kinder! Der Job allein macht einen doch nicht glücklich, eine Frau schon gar nicht! Bloss wollte Grit nie Kinder. «Komplett nicht, null», sagt sie.

Nicht alle können das verstehen. Neulich merkte Grit das wieder. Da kommt sie morgens gutgelaunt in ihre Hotelküche, und die Frühstücksköchin fragt:

«Na, hast du endlich ’nen Kerl?» – «Wie kommst du denn da drauf, Kristina?» – «Deine Augen strahlen so!» – «Und der einzige Grund dafür könnte jetzt ein Kerl sein? Ich hab mir heute Morgen neue Schuhe gekauft, und ich hab eine megageile Idee für ein neues Rezept! Deswegen strahlen meine Augen so!», antwortete Grit. Dann war Ruhe, und sie stellte das Menü für den Tag zusammen.

«Das Wichtigste ist eine anständige Vorbereitung», sagt Grit jetzt, während sie zwei Avocados entkernt. Aus der kleinen Musikanlage in der Küche tönen mexikanische Klänge, passend zum Tagesmotto. Grit kennt die Band, die Orishas; sie hat mal ihr Catering gemacht – und die Jungs abends mit Jägermeister unter den Tisch gesoffen. Jetzt arbeitet sie zügig, konzentriert, aber ohne Hektik. Seit ihrer Ausbildung kann sie sowieso nichts mehr aus der Ruhe bringen. Oder fast nichts. Ausser wenn Dietmar und ihr ehemaliger Berufsschullehrer ein Wochenende im «Kubatzki» einchecken würden. «Da würde ich sterben vor Angst!», gibt Grit zu, hält kurz inne, «weil ich natürlich will, dass die stolz auf mich wären.» Dabei muss sie sich nichts mehr beweisen. Sie hat es geschafft: Richtung gewechselt, Stromschnellen gemeistert, Traum erfüllt.

«Braunschweig ist die schönste Stadt der Welt!», hat sie früher immer gesagt. Heute ist sie nicht mehr oft dort. Ihre Eltern haben sich in St. Peter-Ording ein Haus gekauft, die Freude kommen mittlerweile zu ihr, wenn sie sie sehen wollen. Grit ist der Weg zurück längst zu weit geworden.

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