Men don´t cry
Men don´t cry
Vor rund dreissig Jahren endete der Krieg in Bosnien. Zehntausende Menschen wurden damals Opfer sexualisierter Gewalt – darunter auch viele Männer.
#4/25, annabelle, April 2025
Es dauert nicht lange, bis er sich den ersten Raki einschenkt. Ohne Raki geht es nicht, wenn dieser zwei Meter grosse Riese von einem Mann zu reden beginnt. Aber eines will Damjan Tripković, 67, direkt klarstellen: «Ich werde niemals alles erzählen. Du würdest weinen, wenn ich dir alles erzähle.» Dann sagt er «Caputto» und meint damit sich selbst. Schwer atmend hockt er in seinem kleinen Wohnzimmer in Bileća im Süden von Bosnien und Herzegowina und steckt sich die nächste Kippe an. Die jahrelange Trinkerei, die vielen Zigaretten, der Blutzucker: All das sind nur die kleineren Übel. Wirklich kaputt gemacht hat ihn das, was die Kroaten ihm antaten, damals im Krieg 1992, als sie ihn, den serbischen Soldaten der Jugoslawischen Volksarmee, für 136 Tage in ein Gefängniscamp steckten, ihm die Kleider nahmen, Rippen brachen, auf ihn schossen, ihn grün und blau schlugen, tagsüber, nachts, einmal, zweimal, hunderte Male. Und ihn zum Oralsex mit anderen zwangen, auch mit dem eigenen Bruder.
Schwerfällig erhebt Tripković sich vom Sofa, zieht sein T-Shirt über den grossen Bauch nach oben. Ein Holzkreuz der Orthodoxen Kirche hängt um seinen Hals. Die Jeans sitzt locker, als er erst auf zwei verheilte, aber gut sichtbare Einschusslöcher unter seiner linken Achsel zeigt, dann auf eine Narbe oberhalb der linken Hüfte. Alles Überbleibsel der monatelangen Folter. Er zieht sein Shirt wieder herunter und lässt sich stöhnend aufs Sofa fallen. Der nächste Raki wandert ins Glas.
Ein paar Tage zuvor erzählt auch Zihnija Bašić, 67 Jahre alt, vom Krieg. Er sitzt auf einer Restaurant-Terrasse nahe seines Wohnorts Kakanj nicht weit von Sarajevo entfernt, als die Erinnerungen zu viel werden und das Damals ihn einholt. Serbische Polizisten hatten ihn, den Bosniaken, gefangen genommen, kurz nachdem der Krieg offiziell schon vorbei war. Zweieinhalb Jahre bei den bosnischen Streitkräften hatte Bašić überstanden. Und dann das. Die serbischen Polizisten übergaben ihn der Militärpolizei, die ihn 21 Tage lang festhielt, schlug und vergewaltigte. Immer und immer wieder.
Bašić ist ein freundlicher Mann, der kocht und putzt, seit er vor sechs Jahren zum Witwer wurde, der Haus und Garten in Ordnung hält, die Blumen in seinem Garten liebt und von seiner verstorbenen Frau als «meine bedeutende zweite Hälfte» spricht. Er wirkt fit, lacht gern. Nichts an seinem Äusseren deutet auf die Hölle hin, die er durchlebt hat. Doch wenn Bašić von den Tagen in Gefangenschaft erzählt, scheint es, als verrutsche die sorgfältig gebaute Ordnung in ihm. Als würde das Gestern ihn wie eine Welle des Grauens überrollen, als sässe er nicht mehr auf jener Restaurant-Terrasse, jetzt, im Oktober 2024, sondern wieder im Gefangenenlager, damals, im Dezember 1995. Bašićs Gesicht läuft rot an, Schweiss sammelt sich auf seiner Stirn. Vor Anspannung knetet er die Fäuste, links, rechts, links, rechts, immer abwechselnd. Sein Blick füllt sich mit Furcht. Schliesslich versagt ihm die Stimme, er beginnt zu weinen.
Damjan Tripković, der Riese, und Zihnija Bašić, der Witwer, kennen sich nicht. Der eine ist Serbe und glaubt an den Gott der christlich-orthodoxen Kirche. Der andere ist Muslim, glaubt an Allah und bezeichnet sich als liberal. Beide Männer sind Überlebende des Bosnienkrieges Anfang der Neunziger, dessen Ende mittlerweile dreissig Jahre zurückliegt – zumindest laut der offiziellen Zahlen. Doch für Tripković und Bašić ist das Gestern immer auch das Heute. Und die Erinnerung sowieso der hinterlistigste aller Feinde: Jeden Moment kann sie dich packen.
Rund 100.000 Menschen wurden während des Bosnienkrieges zwischen 1992 und 1995 getötet oder gelten bis heute als verschollen, die meisten davon muslimische Bosniaken. Zwei bis drei Millionen Menschen flohen, zwischen 20.000 und 50.000 erlitten, so bestätigen es Expert:innen, sexualisierte Gewalt. Vor allem muslimische Frauen wurden vergewaltigt und sexuell gefoltert, aber auch auf serbischer und kroatischer Seite gab es Opfer. Nicht immer waren diese weiblich. Es traf auch Männer.
Wie viele genau, kann niemand sagen. Weil Männer noch seltener als Frauen über sexualisierte Gewalt sprechen, wenn sie ihnen widerfährt, wie die Psychotherapeutin Augustina Rahmanovic weiss, die seit dreissig Jahren vor Ort mit Überlebenden sexualisierter Gewalt arbeitet. Und weil Vergewaltigung bei Frauen als krimineller Akt bekannt und benannt ist – beim anderen Geschlecht hingegen immer noch viele davon ausgehen, einem Mann könne sexualisierte Gewalt gar nicht angetan werden, auch nicht im Krieg. «Das Problem ist: Wie zählt man und welche Taten zählt man überhaupt?», sagt die Wissenschaftlerin und Professorin Heleen Touquet von der Universität Antwerpen, die derzeit an einem Buch zum Thema arbeitet. Gezielte Schläge auf die Genitalien beispielsweise seien als Foltermethode im Bosnienkrieg so verbreitet gewesen, dass sie oft gar nicht als sexualisierte Gewalt verstanden worden seien, «aber natürlich ist es genau das.»
Schätzungen gehen von tausenden Männern aus, die Opfer wurden. Was sie durchlitten, häufig in Gefangenenlagern oder auf Polizeistationen, ist so brutal und teils sadistisch, dass schon die Worte weh tun, die davon erzählen. Vier Männer haben der annabelle trotzdem in persönlichen Gesprächen von ihren Erlebnissen berichtet: Damjan Tripković, der Riese, der vor dem Krieg als LKW-Fahrer in ferne Länder reiste und heute nur noch als Schatten seiner selbst in den Tag hineinlebt, die Flasche Raki immer in Reichweite. Zihnija Bašić, der muslimische Witwer, der gern mit dem Auto durch die dicht bewaldeten Berge oberhalb von Kakanj fährt, weit weg von Menschen. Dobrivoje Bojović, Serbe, 65 Jahre alt und Dachdecker, der dieser Tage in seinem Heimatort ein Haus für die Familie baut und seit den Tagen in Gefangenschaft so schreckhaft sei, wie er sagt. Und Amir Efendić, Muslim und ebenfalls 65, der am schüchternsten von allen vieren wirkt, dessen ganze Freude seine kleine Enkelin Amina ist und der nie Teil irgendeiner Armee war, auch damals nicht, als die Serben per Megafon sein ganzes Dorf zusammentrieben, Männer, Frauen, Kinder und Alte in Bussen wegschafften und ihn in ein Gefangenenlager steckten.
Ich erkannte einen der Gefängniswärter. Weil ich ihm früher mal geholfen hatte,
einen Job zu bekommen. Vor dem Krieg war ich Bauleiter,
entschied darüber, wer auf der Baustelle einen Job bekam und wer nicht.
Er tat so, als würde er mich nicht kennen.
Amir Efendić
Die Erzählungen der vier Männer lassen sich nicht in jedem einzelnen Detail überprüfen. Und doch decken sie sich in ihrer Grausamkeit und zeugen von einer Systematik, die andere männliche Opfer ebenfalls und massenhaft in Gefangenschaft durchlitten, was der Internationale Strafgerichtshof für das Ehemalige Jugoslawien (ICTY) ab 1993 in Den Haag in jahrelanger Arbeit ermittelt, dokumentiert und verurteilt hat. Und was Gerichte vor Ort noch immer aufarbeiten.
Als der Vielvölkerstaat Jugoslawien in den Achtzigerjahren in eine tiefe Krise rutscht, kann sich niemand vorstellen, dass ein paar Jahre später Nachbarn zu Mördern werden; seit jeher haben auf dem Westbalkan Menschen verschiedenen Glaubens und unterschiedlicher Ethnien zusammengelebt, darunter katholische Kroat:innen, christlich-orthodoxe Serb:innen, muslimische Bosnier:innen. Jugoslawien besteht damals aus Bosnien-Herzegowina, Kroatien, Mazedonien, Montenegro, Slowenien und Serbien, auf dessen Gebiet sich zudem die autonomen Provinzen Wojwodina und Kosovo befinden. Serbien ist die grösste der Teilrepubliken, allerdings leben nur 60 Prozent der Serb:innen auch tatsächlich in Serbien; die restlichen sind in anderen Teilrepubliken ansässig, vor allem in Bosnien-Herzegowina und Kroatien.
Zusammengehalten wird das Vielvölker-Konstrukt durch Staatspräsident Tito. Als dieser 1980 stirbt, werden die Forderungen nach mehr Souveränität in den einzelnen Teilrepubliken immer lauter. In die Reden der politischen Akteure mischen sich nationalistische Untertöne. Sie peitschen die Gesellschaft auf, um ihre territorialen Ansprüche durchzusetzen.
1991 erklären zunächst Slowenien und Kroatien ihre Unabhängigkeit, was den Anfang der so genannten Jugoslawienkriege markiert: In Slowenien kommt es zu einem zehntägigen Krieg zwischen slowenischen Territorialeinheiten und der serbisch dominierten Jugoslawischen Volksarmee (JVA). In Kroatien bricht kurz darauf ein vierjähriger Krieg aus, kroatische Truppen kämpfen gegen serbische Verbände, die von der JVA unterstützt werden. In Bosnien-Herzegowina stimmen die Menschen Anfang 1992 über die Abspaltung von Jugoslawien ab: Die bosnischen Serben boykottieren diese Wahl grösstenteils. Die muslimische und kroatische Bevölkerung jedoch votiert dafür; im März 1992 ist es schliesslich so weit: Bosnien-Herzegowina ruft seine Unabhängigkeit aus. Die bosnisch-serbische Seite antwortet ihrerseits mit der Gründung der eigenen Republika Sprska – und mit der Belagerung Sarajevos. Der Bosnienkrieg beginnt.
Neben den regulären Streitkräften wüten Dutzende paramilitärische Banden in diesen Kriegen, serbische ebenso wie kroatische und bosniakische. Während des Bosnienkrieges kommt es zu Massakern auf allen Seiten. Doch besonders die Muslime leiden; sie werden im grossen Stil vertrieben und ermordet.
Die Menschen in Westeuropa schauen schockiert auf die Bilder im Fernsehen und in den Zeitungen: Sie sehen in Brand gesteckte und geplünderte Dörfer, zusammengepferchte Männer, Frauen und Kinder, abgemagert, nach Geschlecht separiert, Orte, die sich später als Vergewaltigungscamps und Foltergefängnisse entpuppen. Von ethnischer Säuberung der Serben an den Muslimen ist die Rede. Schliesslich tauchen erste Hinweise über den Genozid von Srebrenica auf, die sich bestätigen: In wenigen Tagen töten im Sommer 1995 bosnisch-serbische Truppen rund 8000 muslimische Jungen und Männer. Verantwortlich dafür sind Radovan Karadžić und Ratko Mladić, beides bosnisch-serbische Anführer, die mit Rückendeckung von Slobodan Milošević, damaliger Präsident von Serbien, ihre Verbrechen durchführen. Sie werden später alle drei vor dem ICTY landen.
Meine Haut war schwarz von all den Schlägen. Aber das Schlimmste
waren die Worte. Einmal sagte einer der Wärter zu mir:
„Gestern habe ich deine ältere Tochter vergewaltigt und sie aufgespiesst.
Ich weiss, sie ist sechs Jahre alt. Mein Vater
hat deine Jüngere vergewaltigt und das Gleiche gemacht.
Wir haben deinen Sohn auf einem Spiess gebraten und ihn gegessen!“
Damjan Tripković
1995 schliesslich einigen sich die Kriegsparteien auf Druck der USA über einen Waffenstillstand. Das Land wird unter ein internationales Mandat gestellt und mit einer Übergangsverfassung versehen, beides gilt bis heute. Bosnien und Herzegowina setzt sich seither aus zwei Teilrepubliken zusammen: der überwiegend von bosnischen Serben bewohnten Republika Srpska und der bosniakisch-kroatischen Föderation, sowie Sonderverwaltungsgebiet Brcko.
Es ist später Vormittag, aber Damjan Tripković, der Riese, sitzt schon seit 6.20 Uhr in der «Atina»-Bar in Bileća, die er scherzhaft seine «Bibliothek» nennt. Es ist ein warmer Oktobertag, fast spätsommerlich. Die Bar macht um sechs Uhr morgens auf, Tripković kommt jeden Tag für ein bis zwei Stunden hierher. Seine Frau könne es kaum noch ertragen, sagt er, die Augen glasig, «Trinken ist das Einzige, was hilft.» Er hat die ganze Nacht kaum geschlafen, wegen der Erinnerungen, die die Gespräche mit uns in ihm wachgerufen haben. Neben Tripković sitzt sein Kumpel, die beiden kennen sich aus Kriegszeiten. «Du hast ein paar Bibliotheken zu viel gesehen, mein Freund», sagt er, doch Tripković winkt ab und versucht noch einen Scherz. Er macht gern Witze, um sein Gegenüber zu unterhalten. Tieftraurig wirkt er trotzdem.
Tripković wurde von den Kroaten im Gefangenenlager Lora in der kroatischen Küstenstadt Split festgehalten und gefoltert – genauso wie Dobrivoje Bojović, der Dachdecker, ebenfalls Serbe. Lora sollte nach Ende des Krieges berühmt-berüchtigt werden für die Brutalität, die seine Insassen ertragen mussten: Die Gefangenen werden geschlagen, bis manche sterben, anderen werden Ohren oder Finger abgeschnitten, sie werden mit elektrischen Schocks an Genitalien und anderen Körperteilen gequält, dürfen tagelang nicht auf die Toilette gehen, müssen Salz essen, ohne danach Wasser zu bekommen, hungern, nackt in ihren Zellen ausharren, ohne ein Wort untereinander wechseln zu dürfen, werden Fake-Exekutionen unterzogen, zum Sex gezwungen. An Feiertagen kommen «Besucher:innen» ins Lager, die sich ungehemmt an den Insassen abreagieren können, jeder, der will. Auch die Ehefrau einer der Aufseher macht mit. «Eines Tages kam sie ins Gefängnis», erinnert sich Bojović. «Sie fragte mich und andere Insassen: `Willst du mich ficken, eine kroatische Fotze?` Wenn man aus lauter Angst vor noch mehr Schlägen mit `Ja´ geantwortet hat, hat sie einen angeschrien: `Wie kannst du es wagen!´– bei einem ´Nein´ antwortete sie: `Was bildest du dir ein, wer du bist, dass du mich zurückweisen kannst?!´»
Bojović weiss nicht, wie er Lora überlebt hat. «Ich hatte niemanden mehr in dieser Zeit ausser Gott», sagt er. So einsam und verzweifelt sei er im Gefängnis gewesen. Das Datum seiner Entlassung, der 16. Juli 1993, wird er nie vergessen. Genauso wenig wie die anderen drei das ihrige. In der ersten Zeit nach der Entlassung habe er Angst vor seinem eigenen Schatten gehabt. Aber verstecken wegen dem, was passiert ist? Nein, sagt er bestimmt.
Es gibt nichts, wofür ich mich schämen müsste.
Die Täter müssen sich schämen.
Dobrivoje Bojović
Expert:innen wie Yuriy Nesterko von der Abteilung für Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie der Universität Leipzig wissen heute, dass sexualisierte Gewalt im Krieg, wie Bojović und die anderen drei Männer sie erlebt haben, keine Ausnahme ist. Sondern gezielt und systematisch eingesetzt wird. Zur ethnischen Säuberung und Vertreibung, aber auch, um über ein einziges Individuum eine ganze Community zu treffen. Egal ob in Ruanda oder Syrien, im Kongo, in der Ukraine oder eben im ehemaligen Jugoslawien: Immer dann, wenn in einem Krieg eine Ethnie über eine andere siegen will, wenn sie für sich und ihre jeweilige Religion das alleinige Daseinsrecht beansprucht, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sexualisierte Gewalt ausgeübt wird. Starre Männlichkeitskonzepte vergrössern diese Wahrscheinlicht noch. Denn in stark patriarchalen Gesellschaften, die den Mann über die Frau stellen und denen ein sehr binäres Geschlechterbild zugrunde liegt, bedeutet eine gesunde Männlichkeit Unversehrtheit, Widerstandskraft, die Fähigkeit, andere zu schützen. «Ein Mann aber», erklärt Nesterko, «der durch einen anderen des feindlichen Kollektivs vergewaltigt wird, hat in einem solchen Weltbild versagt; er gilt als feminisiert und schwach, als gedemütigt, oftmals auch als homosexuell.»
Im Interview spricht Bojović lückenlos und detailliert. Ohne eine einzige Träne, den Blick selbstbewusst dem Gegenüber zugewandt. So als wolle er dem Horror trotzen, den er in anderthalb Jahren Gefangenschaft durchgemacht hat. Und doch lässt das Geschehene ihn nicht los. «Ich habe mein Leben lang als Dachdecker gearbeitet», sagt Bojović, «aber jetzt werde ich älter, mein Körper hält die Arbeit nicht mehr aus. Ich schlafe deswegen schlechter. Jetzt kommen nachts die Gedanken wieder, was mir damals passiert ist.»
Nur die allerwenigsten männlichen Überlebenden schaffen es, so offen und detailliert über das Erlebte zu sprechen wie er. Damjan Tripković, der Riese, kann nur noch fragmentiert und unzusammenhängend von dem berichten, was ihm angetan wurde. Seine Erinnerung hat sich in Fetzen zerlegt, der Raki sein Übriges getan. Amir Efendić, der Schüchterne, zittert, wenn er erzählt. Und Zihinja Bašić, der die Blumen liebt, kann in den Gesprächen mit uns gar keine Details jener Gräueltaten wiedergeben, die er überlebte, zu stark ist seine körperliche und emotionale Reaktion. Jeder der vier Männer kämpft während oder spätestens nach den Interviews seinen eigenen, stillen Kampf.
Es ist schwer zu beschreiben, wie es sich in mir anfühlt,
wenn ich einen Flashback kriege.
Es macht mich kaputt, geistig und physisch. Alles ist grau.
Zihnija Bašić
Trauma kennt kein Verfallsdatum. Vor allem dann nicht, wenn es um lang andauernde und sexualisierte Gewalt geht. Bleibt ein solches Trauma unbehandelt, sucht es sich immer wieder seinen Weg an die Oberfläche; als stünde die verletzte Seele unter Überdruck. Je schwerer das traumatische Ereignis, erklärt Yuriy Nesterko, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass Folgestörungen auftreten. Selbst Jahrzehnte später. Ängste, Depressionen, Suizidalität, Scham- und Schuldgefühle, Schlafstörungen sowie körperliche Einschränkungen durch wiederholte Folter: Die Liste an Traumafolgestörungen kann lang sein. Viele Überlebende können zudem aufgrund dieser Belastungen nicht arbeiten, was zu finanzieller Not und Armut führt.
Meine Kinder haben mein Leid mitbekommen. Auch meine Depressionen.
Wenn ich in diese schweren Episoden falle, habe ich keine Orientierung mehr.
Ich verliere meinen Willen, zu leben.
Zihnija Bašić
Generell gehen Expert:innen davon aus, dass Menschen auch schwere traumatische Ereignisse so in die eigenen Biographie integrieren können, dass ein gutes Leben danach möglich ist. Dafür aber braucht es mindestens zwei Dinge: eine frühzeitige, auf das Trauma fokussierte Therapie. Und den Willen, wirklich an dem Trauma zu arbeiten. Psychologische Hilfe, Medikamente, Familie, ein sicherer Job: All das sind wichtige Faktoren, die bei der Heilung helfen. Vor allem aber: sich mitteilen, anderen anvertrauen. Die Isolation, die Trauma schafft, durchbrechen.
Als ich aus dem Gefängnis nach Hause kam, war das halbe Dorf da.
Mein Sohn war vier Jahre alt. Sie hatten mich schlimm zugerichtet, mein Sohn fragte:
„Papa, haben sie dich geschlagen?“
Ich sagte: „Nein, ist schon ok.“ Und mein Sohn sagte:
„Ist nicht so schlimm, wenn Sie dich ein bisschen geschlagen haben.
Gut, dass wir dich wiederhaben!“
Zihnija Bašić
Für Zihinja Bašić, den Witwer, war das Sprechen die Rettung. Nach seiner Rückkehr aus der Gefangenschaft erzählte er seiner Frau von dem, was passiert war. Sie hörte ihm zu, verurteilte ihn nicht. Seinem Sohn und der Tochter offenbarte er sich erst, als beide erwachsen waren. Öffentlich schwieg er – fast zwanzig Jahre lang. Aber irgendwann musste es raus; der Überdruck war zu gross geworden. 2012 nahm er an einem Workshop der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) in Sarajevo teil, Folteropfer aus dem ganzen Land waren eingeladen worden. Sie alle sassen an einem runden Tisch. Jemand sagte, so erinnert sich Bašić: «Frauen sind vergewaltigt worden.» Und dann brach es aus ihm heraus: «Was ist mit Männern, die vergewaltigt wurden?» – «Sowas gab es?», fragte ein Teilnehmer. «Ja“, sagte Bašić, «und einer sitzt mit euch am Tisch.»
Über die Jahre hat Bašić gelernt, mit seinem Trauma besser umzugehen. 2014 erzählte er auf einer Konferenz in London vor grossem Publikum seine Geschichte. Opfer sexualisierter Gewalt aus der ganzen Welt waren für die Konferenz zusammengekommen. Eine NGO aus Bosnien hatte ihn eingeladen. Bašić erinnert sich gern an London. «Die britische Botschaft hat sich richtig um uns gekümmert, jeder hatte sogar einen eigenen Fahrer!», sagt er. «Das hat sich gut angefühlt. Nicht nur Leute zu treffen, die ähnliches erlebt haben. Sondern auch, von einem fremden Land so behandelt zu werden.»
Bašić lebt heute wie die anderen drei Männer in Rente, aber jeden zweiten Tag steht er um 5.30 Uhr auf, arbeitet acht, zehn, manchmal zwölf Stunden in der Käserei seines Schwagers. Die Struktur hilft ihm. Den Käse, den er isst, stellt er selbst her, im Garten zieht er Kürbis, Tomaten, Paprika und Kartoffeln. Die Wochenenden verbringt Bašić oft mit seinen Kindern und den Enkelkindern, die in der Nähe leben. Am vergangenen Wochenende haben sie gemeinsam Ajvar gemacht, einen Brotaufstrich aus Paprika und Auberginen, eine Spezialität im Balkan. Auf seinem Instagram-Account teilt Bašić Fotos von den beiden Enkelsöhnen beim Fussballspielen, von den Rosen aus seinem Garten, oder wie er im Sommer in Lugano posiert, den See im Hintergrund.
Aber Teil von Bašićs Realität sind auch die Medikamente, die er noch immer nimmt. Die Ruhe des Alltags ist trügerisch. «Ohne die Pillen geht es nicht», sagt er. Immer wieder rutscht er in depressive Phasen. Die aktuelle Nachrichtenlage setzt ihm zu: der Krieg in Gaza, in der Ukraine. «Auch wenn ich die Nachrichten nicht gucke, machen sie mich nervös, denn die Leute reden ja über den Krieg.» Er fühle sich in solchen Phasen wie ein Schiff auf offener See, das ziellos von Wellen und Wind hin- und hergeworfen wird. Keine klare Sicht mehr, allein im Nebel.
Wenn es schlimm wird, zieht Bašić sich gern in die Ruhe der Natur zurück. Er interessiert sich für Pilze, auch für Kräuter. Eine Zeit lang hielt er eigene Kühe. Ihnen konnte er vertrauen. «Es gibt bei Tieren kein Unrecht», sagt Bašić. Er achtete stets darauf, gut mit ihnen umzugehen. Weil Bašić nie vergessen wird, wie seine Peiniger ihn und die anderen damals behandelten: schlechter als Vieh.
Nach Ende des Kriegs, als die italienischen SFOR-Truppen unter dem Dach der Vereinten Nationen noch im Land waren, um die fragile Situation zu sichern, absolvierte Bašić eine Therapie. Einmal luden die Italiener ihn und andere Überlebende sogar nach Perugia ein, erinnert sich Bašić. Die Therapie habe ihm geholfen, sagt er. Doch mit dem Abzug der Truppen endete sie nach etwa zwei Jahren.
Es ist ein schweres Leben, eingesperrt in mir selbst,
mit meinem inneren und äusseren Schmerz.
Zihnija Bašić
Heute leben die allermeisten Opfer ohne die Hilfe, die sie eigentlich bräuchten. Sie schweigen, ertragen die Folgen ihres Traumas, irgendwie. Die Stille aber kann den Schmerz nicht einhegen. Sie konserviert ihn nur. Und der Staat versagt, statt ausreichend zu unterstützen: Psychologisch ausgebildete Expert:innen und Therapieangebote gibt es zu wenige, vor allem in ländlichen Regionen, wie eine Studie mehrerer NGOs von 2022 festgestellt hat. Der Zugang zu finanzieller Entschädigung ist zudem undurchsichtig, langwierig und abschreckend. Das fragmentierte Rechtssystem von Bosnien und Herzegowina macht es den Überlebenden schwer, ihre Rechte einzufordern, denn in jedem der drei Verwaltungsgebiete gelten andere Bedingungen.
Bosnien und Herzegowina ist heute ein de facto ethnisch geteilter Staat. Ein Land, das wie die Überlebenden des Krieges in seinem Trauma gefangen bleibt. Die Wunden sind noch immer sichtbar: Wer heute durch die Hauptstadt Sarajevo fährt, erkennt an manchen Häuserfassaden noch immer die Einschusslöcher von damals. Der Westbalkan-Experte Bodo Weber attestiert dem Land eine «strukturelle Dauerkrise» und ein «korruptes, dysfunktionales System, das nur für die herrschenden Eliten funktioniert». Bosnien und Herzegowina stehe heute sogar schlechter da als zu Beginn der 2000er Jahre, weil die politische Elite in alte ethnonationalistische Narrative zurückgefallen sei und eine antidemokratische und antieuropäische Politik fahre. Die serbische Seite übt sich in der Leugnung ihrer Schuld, dort wird der vom ICTY unter anderem wegen Völkermords verurteilte Ratko Mladić vielerorts weiterhin als Kriegsheld verehrt. «Seit zwei Jahrzehnten sehen wir hier eigentlich eine Rolle rückwärts», sagt Weber.
Dabei bräuchten die Opfer gerade auch die staatliche Anerkennung. Offizielle Stimmen, die sagen: Wir sehen euer Leid. Doch die meisten Überlebenden versuchen erst gar nicht, sie zu bekommen. Aus Scham, mangelnder Kraft oder schlicht, weil ihnen das Geld oder die nötigen Papiere fehlen. Nur etwa 1000 Überlebende, die im Bosnienkrieg sexualisierte Gewalt ertragen haben, erhalten eine finanzielle Entschädigung. Dafür gibt es im ganzen Land dreissig Jahre nach Kriegsende weder ein eigenes Gesetz zur offiziellen Anerkennung der Folteropfer noch ein einheitliches Reparationsprogramm.
Amir Efendić, der Schüchterne, will sich damit nicht abfinden. Er lebt in dem Örtchen Divič im Osten des Landes, das sich als muslimische Enklave inmitten der Republika Sprska auf einer kleinen Landzunge in den Zvorniksee schiebt. Menschen kommen für ein Wochenende zum Entspannen in die Gegend oder im Sommer auch länger, sie fischen, geniessen das viele Grün. Alles wirkt friedlich. Aber Efendić weiss es besser.
Während der Muezzin singend zum Gebt aufruft, steht er vor der Gedenktafel der örtlichen Moschee und zeigt auf den Namen seines toten Bruders sowie drei toter Cousins. Sie alle waren wie er selbst während des Krieges verschleppt worden. Anders als er überlebten sie die Folter der Serben nicht. Von dem Bruder blieb der Familie nur der Totenkopf. Das untere Stück davon fehlt.
Efendić will, dass seine dreizehneinhalb Monate Horror im Gefangenenlager in Batkovic endlich auch von der Republika Sprska gesehen und entschädigt werden. Dabei muss man sich Efendić als leisen, zurückhaltenden Mann vorstellen. Es geht ihm nicht um Rache. Aber um Anerkennung. Deswegen fuhr er vor ein paar Monaten mit dem wenigen Geld, das er besitzt, nach Sarajevo. Gemeinsam mit anderen Überlebenden, Männern wie Frauen, stellte er sich vor das Regierungsgebäude und forderte die zuständigen Politiker:innen dazu auf, endlich ein entsprechendes Gesetz für die ehemaligen Gefangenen zu verabschieden. «Wir waren etwa 2000 bis 3000 Leute», schätzt er. «Man versprach, uns bis zu einem bestimmten Datum zu antworten. Aber es kam nichts.»
Jedes Jahr seien weniger Überlebende dabei, wenn sich die ehemaligen Gefangenen zum Jahrestag der Entlassung aus dem Lager treffen, erzählt Efendić. «Die Leute sterben nach und nach», sagt er. «Aber die Demonstration sollte eine Warnung an die Politiker sein. Und eine Erinnerung daran, dass wir noch da sind.»
Wenn Amir Efendić heute in Divič am Grab seines Bruders steht, die Hände zum Gebet erhebt und danach den kleinen Hügel zur Moschee hinunterschaut, blickt er immer auch in Richtung seiner Peiniger. Direkt hinter der Drina, auf der anderen Seite des Flusses, liegt Serbien.
Das Gestern, in Bosnien-Herzegowina ist es immer noch das Heute.
Mitarbeit: Boris Mrkela