Verloren in Optionen

Jeden Morgen blättert sie zum Kaffee einen digitalen Katalog fremder Lebensentwürfe durch.

#55, November 2020, REPORTAGEN


Eine junge Frau steht in einem Berliner Supermarkt und kann sich nicht entscheiden. Der Edeka, in dem sie sich durch die Regaltunnel schiebt, ist ganz neu und riesig, nicht vergleichbar mit dem kleinen, in dem sie sonst immer einkaufen geht. Aber sie wollte sich die Sache einmal ansehen. Eine Tiefkühlpizza wollte sie kaufen, Ristorante von Dr. Oetker, «Spinat mit Käse». Doch jetzt steht sie vor vier Regalfächern Tiefkühlpizza, die sich vom Boden bis fast unter die Decke ziehen.

Sie staunt, dass ein einziger Supermarkt ein solches Sortiment aufbieten kann. Ihr Gesicht wirkt müde und fahl im Neonlicht, die Kühlung rauscht. Sie tritt einen Schritt zurück, um das Angebot in seiner Breite besser erfassen zu können. Auf einmal gerät sie in Zweifel, ob «Spinat mit Käse» wirklich die beste Wahl ist. Vielleicht doch «Viermal Käse»? Oder «Pizza Salami», ausnahmsweise? Ja, schon klar, ist Wurst drauf. Wollte sie nicht mehr essen. Wegen der Tiere, wegen des Klimas. Aber. Nur heute. Andererseits: Sie hat seit mindestens zwei Wochen keine Pasta mehr gegessen. Oh ja, Pasta! Sie lässt die gläserne Pizza-Regalwand hinter sich und bewegt sich Richtung Nudelregal.

Ist es am Ende egal, was Kerstin entscheidet?

Was will ich? Das ist die eigentliche Frage unter all den Fragen, die die junge Frau sich im November 2019 stellt. Ständig fragt sie sich etwas. Als sässe in ihrem Kopf ein aus den Fugen geratenes Orchester, dessen Mitglieder keine Instrumente im harmonischen Einklang spielen, sondern ständig in einem Chaos schiefe Töne in den Raum posaunen.

Die Fragen schreien sie an: Was will ich? Wer bin ich? Will ich ein Kind? Und wann? Wird mein Leben dann besser? Oder schlechter? Wenn ich niemals eines bekomme, bin ich dann eine mangelhafte Frau? Muss jede eins haben? Wohin mit dem Zweifel? Wohin mit der Angst? Stimmt etwas nicht mit mir, weil ich nicht weiss, was ich will? Woher wissen es die anderen? Tun alle nur so, als seien sie sicher? Ist es am Ende egal, was ich entscheide?

Immer dann, wenn die junge Frau fast das Gefühl der Erleichterung überkommt, weil sie sich endlich dazu durchgerungen hat, einen der vielen Gedanken zu Ende zu denken, posaunen schon wieder das nächste Aber und die nächste Frage dazwischen. So geht das die ganze Zeit. In ihrem Kopf ist niemals Ruhe. Ausser wenn sie arbeitet. Oder schläft.

Aber schlafen, das tut sie momentan auch nicht gut. Zu den Fragen gesellt sich des Nachts die Erinnerung an ihren letzten Besuch bei der Frauenärztin hinzu. Die hatte in der Nacht zuvor vielleicht auch schlecht geschlafen und daher für einige Momente ihre Fassung und damit die ärztliche Distanz verloren, was die junge Frau im Nachhinein als Grenzüberschreitung analysierte. Aber da hatte das Gespräch schon stattgefunden, in welchem die Ärztin ihr mit aller verbalen Vehemenz und in einem wasserfallartigen Wortschwall nahelegte, in ihrem Alter, mit 35, jetzt wirklich nicht mehr zu warten mit Kindern. Weil sie sonst so enden würde wie ihre Patientinnen mit Anfang 40, die jetzt auf einmal ein Baby wollten, aber nicht mehr könnten, oder noch schlimmer, jene bemitleidenswerten Frauen um die 60: «Ohne Kinder haben Sie in dem Alter niemanden, um den Sie sich kümmern können – und auch niemanden, der sich um Sie kümmert!», hatte die Ärztin ihrer Patientin an den Kopf geknallt, die damit schlagartig nicht mehr jung war. Sondern von einem auf den anderen Moment gealtert, faltenlos.

So läuft sie nun durch den Supermarkt und ihr Berliner Leben. Beziehungsweise: Sie läuft nicht, sie mäandert. Die letzten Jahre, die die ersten ihres Jobs waren, haben sie viel Energie gekostet. Es war ein weiter Weg, das ist ihr erst vor kurzem klar geworden. Sie kommt «vom Dorf», aus einer Familie, in der vor ihr niemand studiert hat. Ausserdem arbeitet sie in der Medienbranche, die jährlich mehr unter Sparmassnahmen ächzt. Und die Frau, nennen wir sie Kerstin, wollte es schaffen. Unbedingt. Sie wollte unabhängig sein, finanziell. Und sie wollte raus.

Nicht nur deswegen ist ihr Beruf für Kerstin lange Zeit wichtiger gewesen als alles andere. Sie ist zielstrebig, ehrgeizig, hat sich nie ablenken lassen. Stattdessen lief sie ihrem beruflichen Ziel wie eine Ausdauerläuferin entgegen, den Blick allein in eine Richtung gewandt: nach vorn. Ihr Job richtete sich nicht nach ihrem restlichen Leben – ihr restliches Leben baute sich um ihren Job herum. Weil er ihr Spass macht, weil sie sich gut fühlt, wenn sie etwas leistet. Diesen Zusammenhang hat sie früh erlernt.

Aber auch, weil da diese Angst in ihr sass, immer. Dass es sonst nicht reichen und sie niemals etwas werden würde, als Kind einer starken und lebensfrohen, aber alleinerziehenden Mutter vom Dorf, ohne akademischen Hintergrund.

Kerstins Arbeit ist mehr als Geld verdienen: der Nukleus ihrer Identität, ihre Gedanken nach aussen gestülpt

Wenn Kerstin heute in das Dorf fährt zu Besuch, hat sie das Gefühl, sich stauchen, quetschen und gleichzeitig dehnen zu müssen, damit sie wieder in die alte Form passt. Sie versucht es jedes Mal. Aber es gelingt ihr nie.

Um die alte Form verlassen zu können und die Angst hinter sich zu lassen, arbeitete Kerstin in den ersten Berufsjahren am Wochenende, am Abend, in der Nacht. Als Ich-AG, als Selbständige also. Sie gewöhnte sich daran, dass in ihrem Job nie etwas sicher war und auch heute noch nicht ist. Die Leidenschaft für ihre Arbeit flüsterte ihr ein, dass das schon okay so sei und die Unsicherheit eben der Preis dafür, dass sie das tun könne beruflich, was sie immer tun wollte. Niemand aus ihrem Freundeskreis macht einfach nur irgendeinen Job. So gesehen, sagt die Leidenschaft ihr auch heute noch ins Ohr, könne sie doch glücklich sein. Denn Kerstins Arbeit ist mehr als Geld verdienen: der Nukleus ihrer Identität, ihre Gedanken nach aussen gestülpt. Das erzählt Kerstin sich selbst. Bloss: Glücklich ist sie nicht in diesen Novembertagen.

Es ist Freitag, 19 Uhr, Wochenende. Kerstin schliesst die Tür zu ihrer Kreuzberger Wohnung auf, öffnet, es ist dunkel und still. Ihren Mitbewohner hat sie schon seit Tagen nicht mehr gesehen, meistens geht jeder von ihnen seinen eigenen Weg. Freitag in Berlin bedeutet die grosse Verheissung: Kerstin könnte an diesem so wie an jedem anderen Wochenendabend sehr viel Spass haben, sagt diese Stadt ihr, die keine Grenzen kennt und keine Sperrstunde, sie könnte tanzend in einem der Clubs verschwinden, im Vakuum der Nacht, zwischen Techno-Tönen und dampfenden Körpern, deren Gesichter mit suchendem Blick, ihrem gleich, den Raum scannen und sich doch nicht treffen. Oder sie könnte mit Freunden in einer der vielen Neuköllner Kneipen hängen, um gegen vier, fünf Uhr festzustellen, dass es zu viele Zigaretten waren und zu viel Gin Tonic, und dann allein nach Hause wanken. Oder sie bleibt einfach direkt zu Hause und netflixt.

Die Rolle der Hausfrau und Kümmerin hat Kerstin nie interessiert

Kerstin legt ihre Tasche ab, mit Nudeln, Parmesan und Pesto rosso darin, zieht den Mantel aus, streift die Stiefel ab und wirft sie in eine Ecke. Sie ist müde, es war eine anstrengende Arbeitswoche. Sie checkt ihr Handy, keine Nachrichten von ihren Freunden, auch nicht von ihrem Ex-Freund. Sie friert, der Winter hängt ihr in den Knochen. Also entscheidet sie sich für die Netfix-Option, davor ein Bad. Erstmal. Berliner Nächte starten später als anderswo und gehen dafür länger, manchmal auch bis montagmorgens. Ausgehen kann sie immer noch.

Wann hat sie eigentlich zum letzten Mal in Ruhe regelmässig gegessen, drei Mahlzeiten am Tag? Dort, wo sie herkommt, aus der westdeutschen Pampa – genauer gesagt einem Dorf, das nicht einmal tausend Einwohner zählt –, deckt die Mutter schon abends den Frühstückstisch für den kommenden Morgen. Sie stellt die Teller und Tassen mit Untertassen in Reih und Glied auf, entzündet an winterlichen Morgen eine Kerze zum Frühstück gegen die Dunkelheit, bevor sie die frischen Brötchen in ein dafür vorgesehenes Körbchen legt. Zu Hause bei der Mutter gibt es klare Grenzen und eindeutige Regeln. Genug Zeit für die Mahlzeiten muss sein, so lautet eine dieser Regeln.

Kerstin hat diese Ruhe nicht. Morgens isst sie schnell ein Brot oder trinkt nur einen Kaffee, das geht noch schneller. Sie ist keine besonders gute Köchin, meistens isst sie allein. Sich stundenlang für ein Essen in die Küche zu stellen, das sie in fünf bis zehn Minuten hinunterschlingt, erscheint ihr unlogisch. Ein ausgedehntes Essen kostet Zeit. Es passt nicht in ihren Alltag unter der Woche. Kerstin war noch nie eine gute Hausfrau, aber es juckt sie nicht weiter. Von all den Rollen, die eine Frau in Berlin im Jahr 2019 annehmen kann, hat sie die der Hausfrau immer am wenigsten interessiert.

Die Fragen kriechen auf sie zu. Gleich werden sie sich in einem Crescendo in ihrem Kopf entladen

Sie streift ihre gesamte Kleidung ab, lässt die Wanne zu drei Viertel volllaufen, das Wasser ganz heiss. Kerstin hasst lauwarmes Wasser. Entweder duscht sie eiskalt oder badet heiss. Als sie den linken Fuss in die Wanne stellt, schmerzt ihre Haut, sie atmet tief ein und hält die Luft an. Dann zieht sie den rechten Fuss nach, setzt sich hockend ins Wasser. Ihre Hände umschlingen die Knie, die Hitze verschlägt ihr den Atem. Langsam lässt Kerstin ihren schmalen Körper zurücksinken, bis auch ihr Rücken im Wasser liegt und ihr schulterlanges braunes Haar sich darin auffächert. Es ist ein gefährlicher Moment.

Nicht weil das Wasser sich so heiss anfühlt, als könnte es ihre Haut verbrennen. Sondern weil die Stille im Raum das Gedankenorchester ankündigt, das sich einem Crescendo gleich in ihrem Kopf entladen wird. Kerstin hört die ersten Fragen schon. Ob es die richtige Entscheidung war, sich von ihrem Ex-Freund zu trennen? Er hatte ihr alles angeboten, was gemeinhin als erstrebenswert gilt, vor allem für eine Frau: heiraten, Kinder und damit die Idee der klassischen Familie. Zu Hause auf dem Dorf haben alle Mädchen, mit denen sie zur Schule gegangen ist, im Laufe der Jahre geheiratet und Kinder bekommen. Eine kinderlose Frau Mitte 30, auch noch ohne Partner? Gibt es dort nicht.

Kerstin denkt an die Berliner Single-Szene. Eine Katastrophe. Alles geht, theoretisch – aber am Ende geht nichts. Weil die Auswahl so unbegrenzt zu sein scheint, dass allein sich dauerhaft festzulegen, eine grosse Sache ist. Einer ihrer Kumpels datet so viele Frauen, dass sie sich die Namen nicht im Zusammenhang mit dem aktuellen Status merken kann. Dabei wünscht er sich eigentlich eine Beziehung. Er hat sich verheddert, im Konjunktiv der Unverbindlichkeiten.

Wann ist der richtige Zeitpunkt zum Loslassen?

Vielleicht hätte sie länger kämpfen müssen um ihre Beziehung? Das Orchester in ihrem Kopf feuert jetzt im Fortissimo-Modus. Wann ist der richtige Zeitpunkt, um loszulassen? Woher weiss man, dass es besser ist, zu gehen, als zu bleiben?

All diese Fragen hängen sich an einer anderen auf. Nämlich der, ob Kind ja oder nein. Wie das Schwert des Damokles hing die Frage über ihrer Beziehung. Welche Art von Frau will sie sein? Seit Jahren denkt Kerstin über diese Frage nach. Einerseits – andererseits. Lange Zeit hatte der Gedanke an ein Baby ihr Angst gemacht. Der Verlust ihrer Unabhängigkeit, die Veränderung ihres Körpers, die grosse Nähe zu einem kleinen Menschen, der sie existenziell braucht. Sie wollte nicht in diesem Masse gebraucht werden, sie wollte nicht die Kümmerin sein, und sie wollte vor allem die Kontrolle nicht verlieren.

Doch jetzt, wo sie zumeist allein in der Wohnung sitzt, weil sie es so entschieden hat und ihr Ex-Freund vor einem Jahr ausgezogen ist, stellt sie es sich schön vor: ein Baby in den Schlaf zu wiegen, den kleinen Kopf zu streicheln, das feine Haar zu riechen. Zum ersten Mal in ihrem Leben hat sie keine Angst vor diesem Gedanken. Ihr Therapeut macht gute Arbeit.

Sie ist nicht die Erste, die ihn besucht, weil die Ambivalenz in ihr überhandgenommen hat. Neulich fragte der Therapeut sie, ob sie nicht einmal Gruppentherapie ausprobieren wolle. Er habe da eine Gruppe, in die sie perfekt reinpassen würde. Alle seien etwa so alt wie sie.

Streng genommen ist sie nicht mehr jung

Kerstins Alter. Sie dachte lange, sie hätte noch Zeit. Doch jetzt ist sie schon 35. Sie spürt die Sehnsucht in sich, irgendwo anzukommen, den inneren Zweifel an den Nagel zu hängen. Denn natürlich ist sie mit 35 nicht mehr jung im klassischen Sinne. In Berlin vielleicht noch. Andernorts, in ihrem Dorf zum Beispiel, aber nicht. Dort steht man als Frau mit 35 mitten im Leben, hat eine Ausbildung gemacht oder auf Lehramt studiert oder den elterlichen Betrieb übernommen. Fertig.

Kerstin steigt aus der Wanne, ihre Haut krebsrot. Eine schwere Müdigkeit überkommt sie. In ein Handtuch gewickelt, greift sie erneut zu ihrem Handy, schickt die Frage «Was geht heute Abend?» als Whatsapp-Nachricht parallel an zwei ihrer Kumpels und an eine Freundin. Dann legt sie sich ins Bett, erstmal. Das Handy neben ihrem Kopfkissen, damit sie es ja auch bemerkt, sollte sich noch jemand melden.

Sie wird zwar an diesem Abend nicht mehr aufstehen. Aber darum geht es auch nicht. Es geht darum, sich die Option offenzuhalten und die Chance zu bewahren. Auch wenn man sie vor lauter Unentschiedenheit verstreichen lässt. Aber genau so funktioniert Fomo, die von Soziologen und Psychologen genannte fear of missing out: die ständige Angst, im Strudel der Möglichkeiten etwas zu verpassen – die tollste Party, die neuste Mail, die beste Option. Fomo ist mittlerweile so verbreitet, dass sogar die Techniker-Krankenkasse darüber aufklärt und der Begriff es ins Oxford Dictionary geschafft hat. Kerstin leidet laut Selbstdiagnose an Lebens-Fomo: Sie weiss nicht, wohin mit sich.

Als sie am nächsten Morgen aufwacht, ist es in ihrem Zimmer eher grau als hell, das Winterlicht schafft es nicht durch die Fenster bis in die Ecke, in der Kerstins Bett steht. Zum Glück muss sie nicht sofort aufstehen, sie kann noch liegen bleiben. Das Wochenende breitet sich vor ihr aus wie ein Fass umgekippte Tinte, das die zwei kommenden Tage dunkel färbt. Dabei könnte es so schön sein; endlich Zeit, keine Termine. Aber Kerstin hat Angst vor der vielen Zeit, die bedrohlich auf sie zukriecht.

Sie öffnet die Augen, dann schliesst sie sie wieder. Sie hat keine Lust aufzustehen. Plötzlich vibriert ihr Smartphone neben ihrem Kopfkissen. Kerstins Mutter ruft an. Die Tochter ist zu müde, um mit ihrer Mutter zu sprechen, die ihr Leben im fernen Berlin nicht immer verstehen kann. Trotzdem drückt sie auf «Anruf annehmen».

«Hallo??», ruft die Mutter zu laut ins Telefon.

«Ja, hallo», antwortet Kerstin leise.

«Hallo??», sagt die Mutter wieder. «Kannst du mich hören? Liegst du etwa noch im Bett?!»

«Mama», sagt Kerstin, «es ist Wochenende. Und es ist erst halb zehn.»

«Also ich bin schon seit 7 Uhr 30 wach, pass auf, dass du nicht den ganzen Morgen verschläfst!»

«Ja, mach ich, also nein, mache ich nicht», sagt Kerstin, «keine Sorge. Wie geht’s dir?»

Diese Frage ist der Startschuss. Ihre Mutter fängt jetzt an, ihr die Geschehnisse der vergangenen Woche zu erzählen. Ihre eigenen, aber auch die der anderen aus dem Dorf, mit dem Kerstin, streng genommen, nichts mehr zu tun hat. Bei ihrem letzten Besuch zu Hause musterte die Frau ihres Cousins sie streng, nur weil sie ein Trägertop trug, das die Schultern freilegte. «Bisschen frech, oder nicht?», sagte die Cousin-Ehefrau zu ihr im Vorbeigehen und guckte missbilligend auf ihr Top.

Kerstin hört nur mit einem halben Ohr zu, als ihre Mutter in den Telefonhörer spricht. «Und was machst du am Wochenende?», fragt sie schliesslich irgendwann.

«Ich weiss noch nicht», sagt Kerstin. «Vielleicht streiche ich mein Zimmer.»

«Das wolltest du doch schon vor Wochen machen!»

«Ja, ich weiss, aber ich hab’s noch nicht geschafft.»

«Na gut», sagt die Mutter. «Erhol dich auch ein bisschen. Und steh bald auf!»

«Ja, mach ich», sagt die Tochter. Sie verabschieden sich.

Jeden Morgen scannt sie Lebensentwürfe von Frauen, die maximal anders leben als sie selbst

Kerstin steigt aus dem Bett. Sie schlurft barfuss in die Küche und setzt Kaffee auf. Während sie wartet, lehnt sie sich gegen den Herd und sieht sich auf ihrem Smartphone im Stehen ein paar Instagram- Profile an. Kerstin weiss, dass das Quatsch ist und pubertär, dass es sogar ihrer Psyche schadet. Das hat sie letztens in einem Artikel gelesen. Aber sie klickt sich trotzdem durch die Bilder durch, fast jeden Morgen, immer die gleichen.

Kerstin checkt Profile von Frauen, die maximal anders leben als sie: die Mutter von vier Kindern. Die junge Business-Lady, die auch noch Familie hat. Die Freundin ihrer besten Freundin, die nach Argentinien ausgewandert ist. Das Model, alleinstehend und übernatürlich schön. Die Mode- Bloggerin, die um die Welt reist und immer selbstbewusst in die Kamera schaut. Die Feministin und Comedian Amy Schumer, der es egal ist, wie sie auf ihren Instagram-Bildern rüberkommt, die lieber Humor zeigt als einen durchtrainierten Körper. Die Fotografin aus den Niederlanden, die allein auf Spitzbergen lebt, in einem Auto oder auf einem Boot. Alexandria Ocasio-Cortez, die sie bewundert. Weil sie immer so stark und furchtlos wirkt. Das It-Girl auf Ibiza. Die Klimaaktivistin Luisa Neubauer. Die 18-jährige Sängerin Billie Eilish.

Je nach Tageslaune imaginiert Kerstin sich in die eine oder andere Frau hinein. Fast jeden Morgen blättert sie auf diese Weise zu ihrem Kaffee einen digitalen Katalog der weiblichen Lebensentwürfe durch, so wie andere zu ihrem Kaffee eine Zigarette rauchen.

Furchtlos wäre Kerstin auch gern. Aber sie hockt in ihrem Leben wie ein Kaninchen in Schockstarre. Dabei steckt sie mien in der «Rushhour des Lebens», wie Soziologen die Jahre einer emanzipierten Frau zwischen 30 und 40 nennen. Wer jetzt nicht die richtigen Weichen stellt im Job und privat, bleibt in der Rushhour stecken und hat die richtige Abbiegung verpasst.

Kerstin macht sich einen Plan für den heutigen Samstag und für morgen, als Waffe gegen die Einsamkeit. Je mehr Punkte auf ihrem Post-it stehen, desto besser. Jeder Strich hält die Panik in Schach. Kerstin notiert fürs Wochenende:

– Bad putzen

– Zimmer streichen

– ins C/O Berlin gehen

– Susanne (ihre beste Freundin) und die Kids treffen

– Sport machen

– Ben treffen (Ben ist ihr schwuler bester Freund)

– Urlaub planen

– NICHT ihren Ex-Freund anrufen

– NICHT zu viel im Bett liegen und grübeln

– auf den Flohmarkt gehen

Bleibt nur noch die Frage: Womit anfangen? In welcher Reihenfolge die einzelnen Punkte abarbeiten? Kerstin checkt das Internet: heute kein Flohmarkt. Ach ja, denkt sie, ist ja Winter. Sie streicht diesen Punkt von ihrer Liste. Sie öffnet über ihr Handy die Website des C/O Berlin, aber dort findet gerade keine Ausstellung statt, die ihr gefällt. Noch ein Strich. Draussen regnet es, also fällt joggen auch aus. Ihre Freundin Susanne hat keine Zeit; alle Kinder krank. Ihr Freund Ben ist mit seinem Freund mal wieder in irgendeiner europäischen Stadt unterwegs. Hatte sie vergessen. Ihren eigenen Urlaub planen, darauf hat Kerstin nun wirklich keine Lust, sie weiss nicht, wo sie eigentlich hinfahren soll. Am Ende stehen auf ihrer Liste noch vier Punkte:

– Bad putzen

– Zimmer streichen

– NICHT ihren Ex-Freund anrufen

– NICHT zu viel im Bett liegen und grübeln

Kerstin tut sich selbst ein bisschen leid, als sie das vollgekritzelte Post-it anschaut. Es sieht klein und verloren aus, genau so, wie sie sich fühlt. Sie beschliesst, zurück ins Bett zu gehen. Sie hat es vor einigen Jahren einer Freundin abgekauft, es ist ein Familienbett, so gross wie ein kleines weisses Boot, nur als Viereck. Jetzt liegt sie allein darin, freut sich über den vielen Platz und wartet auf den Schlaf, der das Gedankenorchester – hoffentlich – ersticken wird. Dann hätte sie wenigstens einen Strich auf ihrer Liste abgearbeitet: nicht grübeln.

Als Kerstin aufwacht, ist es draussen fast schon wieder dunkel. Sie erhebt sich langsam aus ihrem Boot und schaut auf ihr Handy, eine Whatsapp-Nachricht von ihrem Kumpel Thomas: «Hey, wann treffen wir uns heute Abend? Wegen Pollesch im Friedrichstadt-Palast.» – «Pollesch!», schiesst es Kerstin durch den Kopf. Hätte sie fast vergessen. Ist ja heute Abend, das Theaterstück, Gott sei Dank! Sie wird nicht allein zu Hause sitzen, René Pollesch verspricht spassig zu werden, und eine Freundin aus Leipzig ist auch mit dabei.

Zum ersten Mal an diesem Wochenende spürt Kerstin so etwas wie gute Laune und keine Unruhe mehr. Thomas’ Nachricht ist das beste Medikament gegen das Panikgefühl in ihrer Magengegend.

«Was ist das, diese grundlegende Einsamkeit?»

Als sie vorm Friedrichstadt-Palast ankommt, hat sich längst ein Haufen Menschen vor dem Eingang versammelt, die Vorstellung ist ausverkauft. Kerstin, die Freundin und Thomas haben ihre Karten längst, was Kerstin ein Gefühl der Beruhigung verschafft; wenigstens dieses eine Mal fühlt sie sich am richtigen Ort.

Eine Viertelstunde später sitzt sie im riesigen Theatersaal, zwischen Hunderten von Menschen, alle etwa so alt wie sie selbst. Die Bühne, auf der normalerweise Revuen aufgeführt werden, ist so weit und tief, dass die Schauspieler sich darauf fast verlieren. Die grösste Schaubühne Europas. Obwohl es streng genommen nur ein einziger Schauspieler ist, der das Stück trägt: ein langer Mann in einem glitzernd-goldenen Ganzkörperanzug, der monologisierend über die Bühne hinkt, um wenig später im falschen Takt mit einem 27- köpfigen Tanzensemble einen Cancan hinzulegen. Dazu dröhnt Eurotrash aus den Boxen, Laser zucken durch die Luft, die Tänzer laufen um den Goldmann herum, es ist ein riesig-buntes Pop-Spektakel. Kerstin lacht und amüsiert sich prächtig, sie findet all das witzig, dabei ist nichts an dem Stück lustig. Der Hauptdarsteller schimpft auf den Kapitalismus, sucht den Sinn genauso wie ein Gegenüber und ruft ins Publikum: «Was ist das, diese grundlegende Einsamkeit?»

Kerstin ist jetzt nur noch kollektiv einsam, nicht mehr ganz allein

Er zieht die Vokale dabei, was den Satz ins Ironische hievt. Kerstin findet es schon wieder witzig, aber glaubt zu wissen, was der Satz meint. «Nur die Gebäude wollen unsere Liebe haben», sagt der Goldmann auf der Bühne an anderer Stelle, und beim Finale, als das Ensemble noch einmal über die Bühne tanzt und der Goldmann an unsichtbaren Seilen über ihr schwebt, beschallt Céline Dions Kitsch- Hymne All By Myself den ganzen Saal.

Kerstin klatscht begeistert und fühlt sich so, wie sie sich das ganze Wochenende noch nicht gefühlt hat: gut. Sie ist jetzt nur noch kollektiv einsam, nicht mehr ganz allein.

Früher, mit Mitte 20, hatte sie sich ihr zehn Jahre älteres Ich anders vorgestellt. Sie war sich sicher gewesen, sie würde alles eingetütet haben: Job, Mann, Familie. Jetzt lacht sie über ihre eigene Naivität von damals. Denn Kerstin hat nichts eingetütet. Ihre Gefühle machen nicht das, was sie machen sollen, sie schenken ihr nichts als Verwirrung und Indifferenz. Darüber ärgert sie sich, sie schimpft mit ihren Gefühlen. Weil sie ihre eigenen Erwartungen enttäuschen und die der anderen auch.

Sie wünscht sich jemanden, der ihr im Meer der Optionen zwei Schwimmflügel reicht und sagt: «Da schwimmst du lang, das ist dein Weg.» Kerstin hat Angst, einen falschen Schritt zu gehen. Deswegen geht sie gar keinen. Alles bleibt hypothetisch, selbst die Trennung von ihrem Ex-Freund: Insgeheim hofft Kerstin noch immer, dass sie wie durch ein Wunder doch noch einmal glücklich miteinander werden. Sie vermisst ihn. Das allerletzte Wort ist noch nicht gesprochen, redet sie sich ein.

Am anderen Tag ist der Regen abgezogen, passend zu einem Sonntag. Kerstins Laune hat sich ebenfalls gebessert. Sonntage sind einfacher zu handeln als Samstage, wenn man einsam ist, findet Kerstin, denn am Sonntag ist die Hälfte des Wochenendes geschafft. Am Montag wird sie ins Büro gehen, etwas zu tun haben, ihr Kopf wird dann beschäftigt sein und sie mit all den unangenehmen Fragen in Ruhe lassen. Erstmal. Ausserdem hat Kerstin es am Morgen tatsächlich geschafft, das Bad zu putzen. Check. Sie hat sich keine Frauenprofile auf Instagram angeschaut. Check. Sie hat am Nachmittag ein paar Übungen zu Hause auf ihrer rosa Yogamatte gemacht, Bauch, Beine, Po. Check. Es ist nicht wie richtiger Sport, also nicht wie Badminton oder Radfahren, aber besser als nichts. Davor hat sie sich ein anständiges Mittagessen gekocht, wie ihre Mutter sagen würde: Bratkartoffeln mit buntem Salat. Check. Kerstin findet, damit darf sie es sich leisten, in diesem Moment zufrieden mit sich zu sein.

Je weiter der Sonntag nach vorne rückt, desto besser wird ihre Laune, desto mehr beruhigt sich ihre Panik. Das Gefühl der Leere wird schwächer.

Kerstin hasst Tinder, Bumble, OKCupid und Co., lieber liegt sie allein im Bett

Die letzte Hürde ist der Sonntagabend. Weil mit ihm die Erinnerung kommt. Früher hat Kerstin an Sonntagabenden oft gemeinsam mit ihrem Freund in ihrem weissen Boot gelegen und Tatort geschaut, danach die Polit-Talkshow Anne Will, dann noch die Tagesthemen. Kerstin hat diesen Ablauf, den andere spiessig nennen und der es vielleicht sogar ist, geliebt.

Ihr bester Freund Ben hat ihr geraten, sich für solche Abende einfach jemanden auf Tinder oder Bumble oder Ok Cupid zu organisieren. «Probier das doch wenigstens mal», hat er gesagt. Aber Kerstin hasst Tinder und Co. Sie hat beschlossen, die alte Tradition allein fortzusetzen. Statt einer anderen Person nimmt sie eben ihren Teller dampfende Pasta mit ins Bett. Soll die Welt doch draussen bleiben und sie in Ruhe lassen.

Sie schaltet ihr Handy aus. Nur um es zwei Minuten später wieder einzuschalten. Die Nudeln schmecken fad. Vielleicht hätte sie doch besser Pizza kaufen sollen, denkt sie.





Hinter der Geschichte:

Die Autorin konnte ihrer «Protagonistin» so gut in den Kopf gucken, weil es sich bei Kerstin um sie selbst handelt. Göbel brauchte beim Schreiben aber eine gewisse Distanz. Deswegen wählte sie die dritte Person und einen anderen Namen. Zum Originaltext geht es hier.